Bewertung als Belastung? Pädagogisches Handeln und schulische Selektion
4.-5. April 2024 an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Zu den institutionalisierten Zutaten des schulischen Handlungsraums gehört neben der
Vermittlung von Fachwissen und der Erziehung auch das Ensemble jener Praktiken, in denen sich
das schulische Prüfungswesen vollzieht. Damit ist im engeren Sinne das Geschehen der formalen
Prüfungen bezeichnet (Reh/Ricken 2018). Im weiteren Sinne gehören in den Bereich des Prüfens
alle Bewertungshandlungen der Lehrerinnen sowie alle Handlungen der Schülerinnen, die
potenziell zum Gegenstand von Bewertungen gemacht werden können (vgl. Breidenstein et al.
2012, Rabenstein et al. 2013, Rademacher/Menzel 2012, Wernet 2023). Schließlich sind noch jene
Praktiken zu nennen, die zwar nicht selbst Teil von Leistungsbeurteilungsvorgängen sind, die sich
aber direkt auf das Prüfen beziehen: Peergespräche, Lehrerkommentare, ggf. auch Elterngespräche
oder Dokumente aus dem schulischen Handlungsraum (vgl. Breidenstein 2012). So gesehen ließe
sich sogar die Frage stellen, welche Praktiken in der Schule eigentlich eindeutig außerhalb der Sphäre
des Prüfens liegen.
Diese erdrückende Omnipräsenz der Prüfungslogik im Schulischen (vgl. Kalthoff 2019), die in den
letzten Jahrzehnten in ihrem Formalisierungsgrad und an Penetranz zugenommen hat, lässt sich in
Zusammenhang bringen mit der nicht neuen These, dass die Selektions- oder Benotungsaufgabe,
die dem Bildungssystem im Allgemeinen und der Schule im Besonderen zukommt, das
pädagogische Handeln belastet.
- Gesellschafstheoretisch belastet das Bewerten die Schule, weil dem Ergebnis der schulischen
Zertifizierung ein extrem hohes biographisches Gewicht zugesprochen wird. Die Schule
als Institution ist zur „nahezu einizigen sozialen Dirigierungsstelle für Rang, Stellung und
Lebens-Chancen des einzelnen in unserer Gesellschaft“ (Schelsky 1965, S. 181) geworden. - Sozialpsychologisch belastet das Bewerten das pädagogische Handeln und die schulische
Lebenswelt (vgl. Ulich 1996). Lehrer:innen müssen Schüler:innen ihre schlechten
Leistungen mitteilen, Schüler:innen vergleichen untereinander ihre Leistungsungleichheit;
nicht zuletzt wird das „impression management“ für alle Beteiligten zur Daueraufgabe
(Bräu/Fuhrmann 2019). - Didaktisch wird auf das belastende Primat der Prüfungslogik im Hinblick auf Prozesse der
Wissensvermittlung hingewiesen („teaching to the test“). Wird nur im Hinblick auf die
Prüfungsfrage gelehrt und gelernt, verlieren all jene Inhalte und Kompetenzen an
Legitimität, die sich nicht unmittelbar als „prüfungsrelevant“ ausweisen (lassen). - Fachdidaktisch kommt es zu spezifischen Problemvariationen. So verschreiben sich etwa im
Sportunterricht Leistung und Körper (Mummelthey u.a. 2022). Im künstlerisch-musischen
Bereich kommt es zu Interferenzen von Begabungs- und Leistungsvorstellungen.
Schließlich gehört auf dem Feld ethischer und religiöser Lehr- und Lernprozesse die
Thematisierung von Gerechtigkeitsfragen und die Problematisierung von Selektions- und
Verwertungslogiken zu den Inhalten. Die Prüfungsförmigkeit des schulischen Unterrichts
und seine Fachlichkeit geraten so insgesamt in Spannung (Roose 2021). - Zudem verlangt der konstitutive Status diskursiver Lehr- und Lernarrangements sowie die
Thematisierung existenzieller Fragen zumindest nach partiellen Unterbrechungen der
Prüfungslogik. Diesbezüglich ließe sich von einer fachlogischen Verdopplung des
Belastungsproblems sprechen.
Anschließend an diese grundlegenden Bestimmungen und Befunde zur Logik von Bewertung im
schulischen Handlungsraum unter dem Aspekt ihrer Belastung, sind in der qualitativen
Unterrichtsforschung der letzten Jahre einige ‚Baustellen‘ in Bezug auf den Aspekt der schulischen
Selektion und Leistungsbewertung eröffnet worden, an die wir im Kontext der Tagung gern
erinnern möchten: - In Bezug auf das Reformprojekt inklusive Schule stellt sich die Frage, welche spezifischen
Handlungsprobleme sich ergeben und wie sich strukturtheoretische Perspektivierungen des
pädagogischen Handelns in der Schule mit dem Anspruch und den Bedingungen von
Inklusion im Unterricht vermitteln lassen (vgl. Braun et al. 2023, Dietrich/Bender 2019,
Fritzsche 2014). Pointiert gesprochen könnte vermutet werden, dass die Schule im
Anspruch von Inklusion zu einer Verschärfung des Belastungsproblems führt. - Sowohl in methodologischer als auch in gegenstandstheoretischer Hinsicht hat
Breidenstein (2018) grundlegende Bedenken hinsichtlich der „Rede von der
Selektionsfunktion“ (ebd., S. 308) angemeldet. Er kritisiert, dass gerade die qualitative
Unterrichtsforschung zu einer Reifizierung und letztlich einer Überschätzung der Relevanz
gesellschaftlicher Selektionsprozesse im schulischen Binnenraum neige, was in der Folge dazu
führe, dass die pädagogische Binnenlogik der Leistungsbeurteilung aus dem Blick gerät
(ähnlich auch: Reh/Ricken 2018). - Ein methodologisches Problem der rekonstruktive Unterrichtsforschung im Hinblick auf
die Theorie der Reproduktion sozialer Ungleichheit wirft Wernet (2018) auf, der zu dem
übergreifenden Befund kommt, dass Prozesse der Reproduktion sozialer Ungleichheit
innerhalb der Rekonstruktion von Strukturen (schulischer) sozialisatorischer Interaktion
verblüffender Weise gerade nicht vorkommen. Während Wernet diesen Befund
methodologisch deutet und die rekonstruktive Unterrichtsforschung tendenziell von der
Ungleichheitsfrage suspendiert, kommt u.a. Kabel (2019, 2021) zu diametral
entgegengesetzten Befunden.
Im Hintergrund dieser Baustellen scheint uns unter anderem die Frage zu stehen, ob Prüfung
und Leistungsbewertung in einem normativen Sinne als immanent pädagogische Praktiken
gefasst werden können oder im Gegenteil als der Pädagogik fremde – und sie eben belastende –
gesellschaftliche Anforderungen, die von der Pädagogik irgendwie bearbeitet werden müssen,
möglicherweise kompensiert oder abgemildert werden können.
Für die kasuistische Lehrerinnenbildung ist das Thema der pädagogischen Bewertung (und der damit einhergehenden Belastung) von großer Relevanz. Gerade weil die Funktion der „Auslese“ eine belastende Seite des Lehrerinnenberufs darstellt, sollten werdende
Lehrerinnen die Mikrologie der Praxis der Bewertung verstehen lernen. So kann etwa sichtbar werden, dass mit dem Bewerten im Kern mehr und vor allem ganz andere Probleme einhergehen, als die messtechnische Güte einer „gerechten“ Notenberechnung. Es kann ferner sichtbar werden, welche Bewertungen notwendig und welche verzichtbar sind, vielleicht sogar zusätzlich belastend. Es kann vielleicht auch helfen, die von der Ungleichheitsforschung in der Tradition Bourdieus tendenziell befeuerte Auffassung, dass Lehrerinnen tendenziell zu
Komplizen der klassischen Diskriminierung der Schüler*innen würden, zu relativieren.
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